Autor: Karin und Sven
«Kirgistan ist die Schweiz Zentralasiens». Dies hat der kirgisische Praesident Askar Akaev seinem Volk mit Erfolg eingefloesst. Fast alle
Kirgisen wissen deshalb von der Schweiz, dass es dort Berge hat. Der Glaube an den Tourismus als starken Wirtschaftszweig ist hier staerker als in
anderen Ex-Sowjet-Staaten, auch wenn es einige Zweifler gibt. Eine mit schweizer Hilfe aufgebaute Kaeserei produziert Emmentaler, Gruyere, Tilsiter und Bergkaese. Dies ist aber hier den wenigsten bekannt und der Export reicht kaum weiter als bis Kazachstan. Weitaus Bekannter sind die schweizer Banken, denn auch die Kirgisen traeumen lieber von Geld als von Kaese und Schoggi. Wir haben uns auch sagen lassen, dass in Kirgistan «alle» politisch interessiert seien (sind wir das in der Schweiz?) und es 50 Parteien gaebe. Aber nennenswerte Opposition gegen den nach Ansicht der meisten Kirgisen «Mafia»-Praesidenten (sie sagen, dass nicht er regiere, sondern diejenigen, welche ihn bezahlen) gibt es offensichtlich kaum und Akaevs Plan, dass Kirgistan als neutraler Pufferstaat zwischen Russland, China und der arabischen Welt Militaer-Auslagen sparen und eine Finanz-Insel werden soll, ist fuer die Nomaden schwer zu verstehen. Jedenfalls liest man das zwar in Buechern, hoert es aber nicht auf der Strasse.
Hoch oben im Thian-Shan (kirgisisches Gebirge) sieht es tatsaechlich verblueffend aehnlich aus wie in den schweizer Alpen an den Orten, wo die Murmelis sich noch ungestoert vermehren koennen und die Einsprachen gegen die Bergbahnen gutgeheissen wurden, welche weder von Naturfreunden noch von Wandervoegeln entdeckt wurden, so dass noch keine gelb oder rotweiss markierte Wege hinfuehren und auch keine Kuehe die Wiesen zertrampeln und das Edelweiss noch unverschaemt drauflosbluehen kann.
Auf einer solchen Alp werden wir am 27. Juli von der Sonne geweckt. Aus dem Zelt hinaus blickend entdecken wir als erstes den blauen Himmel und als zweites ein Murmeli ca. 50m entfernt auf einem Stein. Es verschwindet erst, wenn wir aus dem Zelt kriechen und von unserer Magerwiesen-Terrasse aus die Aussicht auf die Gipfel, die Gletscherzunge und die Moraenen geniessen. Dass wir nicht in der Schweiz sind, beginnen wir erst beim Abstieg ins Tal
langsam zu spueren: Der weite Talboden ist zwar «kahlgeschoren», aber trotz den sumpfigen Stellen nicht voller Kuhtritte. Bald begegnen wir den Pferdeherden.In der ersten kaempfen gerade zwei Hengste um den Chef-Titel, wonach der Sieger mit gesenktem Kopf seine Stuten und Juenglinge eng zusammentreibt, so dass alle wieder wissen, wem gehorcht werden muss. Die zweite Herde gallopiert zuerst von uns davon, wird dann aber doch gwundrig und die mutigsten treten bis ganz an uns heran. Andere grasen ungestoert vor sich hin. Immer noch fehlen die Alphuetten, auch wenn dann und wann doch noch eine Kuhherde auftaucht. Weit unten im Tal entdecken wir schliesslich doch noch menschliches Treiben: Ein Senn (man nennt sie hier «Nomaden», obwohl es eindeutig «nur» Sennen sind) hat hier seine Jurte aufgestellt und
haust drei Sommermonate lang mit Familie und Vieh auf der Alp. Etwa zum fuenften Mal seit dem Start unseres Treks vor 8 Tagen lehnen wir die
Einladung zum «Kumis» ab, moechten aber doch noch die Herde neben der Jurte von Nahem foetelen. Die Fohlen sind alle an einem Seil so nahe am Boden angebunden, dass sie nicht aufstehen koennen. Ihre Mamis sind zwar frei, bleiben aber brav bei ihren Kindern, der Hengst bei seinen Stuten. Kaum ist unser Fotoaparat ausgepackt, kommt neue Fahrt in den Kirgisen. Da nuetzt nun kein Themawechsel mehr, denn nach dem Weg haben wir bereits gefragt und die besten Stellen zum Ueberqueren des Flusses hat man uns laengst erklaert. Wir werden also belehrt, «Kumis» sei kirgisisches National-Getraenk. Die Mutter kommt mit Kessel und der Vater mit weissem Kirgisen-Filzhut. Er bindet das erste Fohlen los und laesst es eine Sekunde lang trinken. Der Rest der Milch kommt in den Eimer. Eine Stute nach der anderen wird gemolken, wobei nur die allerruhigsten einfach so hinhalten. Den meisten wird ein Bein hochgebunden, damit sie nicht mehr zappeln koennen. Lange genug haben wir Zeit, uns mit unserem Schicksal abzufinden und fuer kurze Zeit nur sind wir erleichtert,
als der Eimer voll frischer Stutenmilch im Zelt verschwindet. Aber eben: «Kumis» ist nicht einfach Stutenmilch, sondern gegaehrte Stutenmilch! Nachdem man uns auf die Decke vor der Jurte gesetzt hat, wird uns deshalb die in der Waerme gut gelagerte alte Milch in zwei Riesen-Chachelis serviert. Zum Glueck sind wir mental gut vorbereitet auf diese Situation und halbieren als erstes die Portion auf ein Chchali fuer zwei. Was dann aber kommt, ist schlimmer als erwartet: Kumis ist noch saurer als ein
durchgefallenes Joghurt und schmeckt ausserdem nach Geissbock und nach Cheminee! Sven laesst es bei einem Schlueckchen bewenden, Karin trinkt tapfer deren Fuenf. Weil der Pegel im Chacheli aber danach kaum merklich gesunken ist, finden wir die Ausrede vom «eben gefruehstueckt» und lassen uns zeigen, wie ein echter Kirgise die ganze Schale ext. Es folgt ein Gruppenfoto vor der Jurte und wir fragen nach der Adresse und versprechen, die Fotos zu schicken. Man hat uns erzaehlt, Vodka oder Tee seien willkommene Geschenke fuer die Nomaden. Tee ist uns weitaus sympathischer und wir sind froh, hier unser Zusatzgewicht endlich abladen zu koennen. Aber diese Idee war nicht nur gut, denn umgehend wird uns darauf «Smetana» (Sauerrahm) angeboten. Mit Mitleiderweckender Geste in Richtung unserer
schweren Rucksaecke gelingt uns das dankende Ablehenen nun wieder und wir ziehen weiter, wieder ein Tal aufwaerts durch die Herden. Kaum ausser Sichtweite packen wir unser Mittags-Brot aus. Bis zum Abend sind wir wieder bei den Gletschern, Magerwiesen und Murmelis.
Kirgisische Busse findet man in der Schweiz hoechstens noch ein paar wenige im Verkehrshaus in Luzern. Fuer die Fahrt von Karakol zurueck nach Bishkek haben wir einen besonders lotterigen erwischt. Die Falttueren funktionieren nur noch von Hand und vor der Fahrt geht der Chauffeur durch die Sitzreihen nach hinten und fuellt einen Riesenkuebel voll Wasser ins wohl fest leckende Kuehlsystem! Vor einer knappen Stunde haben wir noch auf dem Bazar Nan (zentralasiatisches Fladenbrot) gekauft und sind dann per Taxi hinaus zum Busbahnhof gefahren. Beim voellig verlassenen Schalterhaeuschen haben wir Fahrkarten mit Platznummer gekriegt und sind in den leeren Schrottkahn
gestiegen. Nun fahren wir zurueck zum Zentrum und nach und nach fuellt sich unser Bus. Am anderen Stadtrand warten wir aber noch ca. eine halbe Stunde am inoffiziellen Busbahnhof, bis der letzte Platz besetzt ist. Hinter uns
kraxelt ein anderthalb jaehriges Kirgisen-Bueblein von Vaters Schoss auf unsere Rueckenlehen. Dann geht’s aber los, stundenlang dem Issyk-Kul entlang, dem auf 1’600 m.ue.M. liegenden See so gross wie die halbe Schweiz. Fuer die Kirgisen sind vor allem die Straende im Norden Ferienziel Nummer eins. Von Sowjet-Zeiten her stehen dort die heruntergekommenen Hotelkomplexe. Auf dem See selbst wurden damals die modernsten
Torpedo-Prototypen getestet, weit weg von allen westlichen Augen, was dieses Gebiet zu einem der geheimsten Gebiete des kalten Krieges machte. Nun sitzen wir aber ganz legal hier in der Holperkiste und staunen rechts auf die
riesige tuerkis-blaue Flaeche mit den Bergen im Dunst darueber. Davor und v.a. auch links von uns zeigen sich haeufig kahle Steppenlandschaften.
Einmal mehr kommen wir dann mit Einheimischen ins Gespraech. «Do you speek Russian?» fragt das Mami des Buebchens hinter uns. Auf unser «da,
tschutschut» («ja, ein Bitzeli») folgen vorerst die ueblichen Fragen: Wie
uns das Land gefalle, wie lange in Kirgistan, von wo wir kommen, ob es bei uns auch Berge, Pferde, Seen, Kartoffel, Schafe, Schnee usw. gaebe. Es geht um Landschaften und Landwirtschaft, die Politik beschraenkt sich auf den Praesidenten, die Wirtschaft auf die Rohstoffe. Natuerlich geht’s auch um Arbeit, Lohn und um Familie. Zur Zeit der Sowjetunion waren zehn Kinder normal, weil nach der Devise «mehr Leute, mehr Produktivitaet» die Frauen
nach dem zehnten Kind zur «Heldenmutter» erklaert wurden. Tatsaechlich haben die Kirgisen ab 30 auch meistens 7-11 Geschwister. Heute sind 5 Kinder etwa normal. Unsere Gespraechspartner sind unterwegs zur (Gross)mutter, wo sich die nach Adam Riese 10 x 5 = 50 Grosskinder zur Aprikosenernte treffen wollen. Nach ca. einer Stunde sind wir ueberredet auch mitzukommen und nach einer weiteren Stunde stehen wir zusammen mit einer jungen Kirgisenfamilie (Papi 34, Mami 20, Soehnchen 1.5) mitten unter der kirgisischen Sonne,
obwohl wir mit unserer Super-Platzkarte noch viele Stunden haetten weiterfahren koennen/wollen. Ca. eine Viertelstunde lang wandern wir ueber Acker und Wiesen Richtung See, wo unter unzaehligen Aprikosenbaeumen voll von reifen Fruechten eine alte Frau an einer handbetriebenen Naehmaschine sitzt, zwei junge Frauen frisch geschorenen Schafswolle bearbeiten und ein paar Dutzend Kinder auf dem Wellblechdach einer Lehmhuette herumturnen. Im Garten gibt’s vorerst Aprikosen a discretion zur Vorspeise. Danach sitzen
wir in einer der Huetten alle im Schneidersitz auf einer Art Buehne um das tiefe Tischchen herum und essen, was am Hof produziert wird: Brot, Butter, Konfituere, Sahne und (hier passen wir) gekochtes Schaffleicsch. In 10 Minuten geht’s dann zu Fuss zum Strand, wo sich das ganze Dorf (ein paar km weg von hier) versammelt hat. Das Wasser ist gerade so warm dass es noch kuehlt und herrlich klar. Vom leichten Salzgehalt spuehrt man nur etwas,
wenn man’s weiss. Die Kinder spielen mit Petflaschen statt mit Spritzkaennchen. Wieder gibt’s Picknick. Es taucht eine junge (ca.
18-jaehrige) Kusine auf, welche in Bishkek englisch studiert. Einer der Brueder oder Schwiegerbrueder steht im Wasser und fischt Sardinen-grosse Fische. Wir sind hier mittten in ein Erholungsgebiet der Einheimischen
geraten! Gegen Abend kehren wir zurueck zu den Lehmhuetten. Nochmals Tee und Brot! Schon von Anfang an haben wir erklaehrt, dass wir morgen frueh weiter
nach Bishkek muessen. Nun organisiert man offensichtlich unser Nachtlager irgendwo im Dorf, nahe von wo der Bus faehrt. Unterdessen zeigen uns die Kinder den Hof mit allen Tieren: Hunde, Katzen, Huehner, Kaelber, Schafe, Esel, Pferde. Dann geht’s per Pferdekarren des Nachbars ins Dorf, wo die Englisch-Studentin fuer uns Pilav (Reis mit Gemuese und Fleisch, welches wir wiederum weglassen) gekocht hat. Vorher gibt’s Tee und Brot zum vierten, nach dem zNacht im naechsten Haus Brot und Tee zum fuenften. Ueberall tauchen noch mehr und noch mehr Verwandte auf und ueberall wimmelt es von neuem von Kindern. In einem Zimmer, wo sonst offensichtlich eine ganze Sippe schlaeft, legt man uns x Decken uebereinander auf den Boden, bezieht die obersten mit frischen Leintuechern und laesst uns bald schlafen.
Bis auf ca. 200m kommt man wirklich ungestoert an die Jurten heran. Weil wir diesmal aber gerne fuer einen Tag dem Song-Koel (Kirgistans zweitgroesster See auf einer Hochebene 3’000 m.ue.M.) reiten moechten, naehern wir uns zoegernd dem erstbesten Nomadenzelt. Wollen wir hier oder dort fragen? Schon kommen aber die Kinder gesprungen und rufen «Sheperd’s life! Sheperd’s
life!» In dieser Gegend ist dies ein Zauberwort. Es handelt sich um ein
Helvetas-Projekt, waehrend dem den Nomaden dieser Gegend gezeigt wurde, dass und wie sie mit den Touristen Geld verdienen koennen. Fuer uns als Touristen
ist «Sheperd’s life» ein Markenzeichen (die Jurte ist sogar mit «Sheperd’s life» bestickt!), welches uns die Sicherheit gibt, dass alles ein wenig
geordneter zu und her geht als sonst, allerdings aber auch bedeutet, dass es hier nichts gratis gibt. Als Diskussionsgrundlage gilt dann auch eine
offizielle Preisliste, welche prompt aus der Jurte gebracht wird. Immer wieder lehnen wir Kumis und Tee ab. Unsere Pferde sind bald einmal gesattelt, einmal mehr werden ein paar Familienbilder geschossen und
Adressen ausgetauscht und dann geht’s los mit 2 Kindern auf einem Pferd als Guide. Sicher passieren wir dann Jurte um Jurte mit boese bellenden Hunden. Die 4 Stunden kosten uns umgerechnet 8 SFr. pro Person, was fuer uns wenig, fuer sie sehr viel Geld ist. Dann geht’s wieder zu Fuss weiter durch die huegeligen Steppen mit gelb-gruenen Weiden, Felsbloecken, Schaf-, Kuh-, und Pferdeherden. Hoch oben, weit ab aller Jurten, begegenen wir gar einer grossen Kamelherde. Gwundrig schwankt das groesste aller Tiere bis auf einige cm auf uns zu, kriegt aber zu seiner Enttaeuschung nichts zu fressen. Erst nach energischem Haendefuchteln ziehen die Wuestenschiffe ueber das Hochplateau wieder von dannen und uns ist endgueltig klar: Kirgistan ist
eben doch noch mehr als «nur» die Schweiz Zentralasiens…
Liebe Gruesse Karin und Sven
(unterwegs nun in die Mongolei)