Autor: Sven Kropf
Liebe Freunde
Als abschliessender Reisebericht senden wir euch zwei Beispiele russischer Logik:
Wenn man in Sibirien einen Zug besteigt, um in die nächst grössere Stadt zu reisen, so ist in der Fahrkarte immer mindestens eine Liegepritsche, eine Matratze und ein Kissen inbegriffen. Die «Provodniza» (Wagenfrau) fragt als erstes, ob man Bettwäsche (2 Leintücher, Kissenüberzug und Handtuch) braucht oder nicht. Sagt man «ja», so ist alles in Ordnung. Sagt man «nein», so heisst es, Bettwäsche sei obligatorisch. Es kostet ja nur knapp 2
Franken. Nur: Wieso wird man dann überhaupt gefragt, ob man eines will oder nicht? Einmal schlägt uns die Provodniza vor, ein Set Bettwäsche für zwei
zu nehmen. Wir finden die Idee gut, sagen zu und jeder von uns kriegt ein Leintuch, um die staubige alte Matratze vor unserem Schweiss zu schützen. Eingehüllt in unsere eigenen Schlafsäcke schaffen wir es trotz ewig zuknallender Wagentüre, einzuschlafen. Gegen 2 Uhr morgens rüttelt die Provodniza Sven wach, reisst ihm Leintuch und Matratze weg und stopft das Leintuch der schlafenden Karin unter die Matratze. Was ist los? – Man darf Bettwäsche nicht teilen! – Wieso nicht? – Weil wir in Russland sind! Na ja, die Unterlage ist nun härter geworden. Eine Stunde später ist man trotzdem wieder eingeschlafen … bis um ca. 4 Uhr die Provodniza wieder kommt, das
Leintuch unter Karins Matratze wieder hervornimmt und es Sven auf die Beine knallt. Ohne Worte, denn wir wissen ja, warum sie das tut: Weil wir in Russland sind!
In Petersburg organisieren wir uns als erstes die Fahrkarte nach Helsinki fuer zwei Tage spaeter. Also gehen wir zum «Findlandskaja Vaksal» (Finnland-Bahnhof). Weil wir auf den Informationstafeln nichts von Zügen nach Finnland finden, gehen wir zum Schalter, der mit «Auskunft» angeschrieben ist. Eine dicke russische Frau mit grimmigem Gesicht gibt uns Auskunft: «Haben sie einen Fahrplan für die Züge nach Helsinki?» – «Nein!» (Pause) – «Wo kriegt man welche?» – «Auf die Strasse, rechts, um das
Gebäude rum!» … Also raus, rechts, wieder rechts. Vor dem U-Bahn-Ausgang sitzt eine Babuschka, welche irgendwelche Sonnenblumenkerne verkauft. Sie will uns Rucksacktouristen helfen und schickt uns zurück in die
Bahnhofshalle. Also versuchen wir´s diesmal am Ticketschalter, wo eine etwas jüngere Russin sitzt, welche sogar ein Lächeln hervorbringt. «Zwei
Fahrkarten nach Helsinki für übermorgen früh, bitte.» – «Helsinki? Da
sind sie falsch! Auf die Strasse, rechts, ums Gebäude rum und bis zu einem Eingang, wo ‹Express› steht.» Was nun? Nochmals zurück? Aber da waren wir ja schon. Wir probieren, ob wir nicht noch etwas mehr aus der grimmigen Auskunfts-Frau herausbringen. «Wir haben’s nicht gefunden» – «es geht erst
in anderthalb Stunden auf» – (Danke fuer die Auskunft) … «aehm, wissen Sie vielleicht, wann die Züge nach Helsinki abfahren?» – «der erste um 7:32,
der zweite um 16:32.» – (Danke für die Auskunft) «und wissen Sie auch, wenn sie ankommen?» – (Frau verdreht die Augen vor so viel Arbeit) «der erste um 12:20, der zweite um 21:20.» – (Danke für die Auskunft) «können Sie das vielleicht aufschreiben, ich spreche drum nicht so gut russisch…» (und bin nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe). Schlussendlich haben
wir doch noch unseren Fahrplan. Wieso haben wir nicht gleich danach gefragt? Nur dumm, dass es uns nicht in den Sinn kommt, auch zu fragen, wo denn der Zug fährt. Der fährt nämlich keinesfalls am alten Finnland-Bahnhof,
sondern am neu gebauten Bahnhof weit ausserhalb der Stadt. Aber auch dies kriegen wir zwei Tage spaeter noch in Erfahrung, wenn wir mit unseren vollbepackten Rucksäcken eine halbe Stunde vor Abfahrt vor den falschen Perrons stehen und gezielt fragen…
Ja, man sieht (wohl vor allem als Tourist) noch viel vom «alten Russland». Es gibt dabei auch viele positive Erfahrungen. So kriegen wir beispielsweise
auch noch U-Bahntickets zum anderen Bahnhof, obwohl wir einen Rubel zu wenig in den Taschen haben. Oder: Für 6 Franken kriegt man Billete fuer’s Rachmaninov-Klavierkonzert mit 25-jaehrigem Pianisten und voll ausverkaufter Konzerthalle – eben «wie früher».
Und was wuerde ein Russe denken, wenn er bei uns die europäische Logik lernen müsste? Bei ihm zu Hause ist der Zug noch 10x billiger als das Flugzeug. Die selber gemachte Walderdbeer-Konfitüre von der Babuschka auf dem Bahnsteig ist günstiger als die von weit her eingeflogene Kiwi-Jam mit viel Konservierungsmittel im Supermarkt mit Gestellauffuellerin, Kassierin, Sicherheitsbeamten, Einpackerin und elektronischen Strichcodes. Wieso das bei uns wohl umgekehrt ist? Wahrscheinlich weil wir in West-Europa sind…
Und definitiv nach Europa sind auch wir mittlerweilen zurückgekehrt. In Stockholm wollen wir uns nun Zeit nehmen, unsere Fotos zu sortieren, bevor wir vor Weihnachten wieder nach Hause zurückkehren werden.
Liebe Grüsse Karin und Sven